Mutige Landgerichte bei Vorlagen an den EuGH

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Verbraucherrechte: Mutige Landgerichte bei Vorlagen an den EuGH – zuletzt LG Erfurt – Mangelnde Bereitschaft der Obergerichte zu Vorlagebeschlüssen an den EuGH

LG Erfurt (8. Zivilkammer), Beschluss vom 14.10.2022 – 8 O 1462/20

Tenor:

  1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
  2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
  3. Steht das Unionsrecht, insbesondere Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und Art. 15 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, ggf. in Verbindung mit Art. 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einer nationalen Regelung entgegen, wonach die vollständigen Verbraucherinformationen erst im Nachgang zu einem Antrag des Verbrauchers, nämlich mit der Versicherungspolice, übermittelt werden (“Policenmodell”)? Falls dies zu bejahen ist: Ergibt sich allein hieraus ein Recht des Verbrauchers zum Widerspruch, d. h. auf Rückabwicklung des Versicherungsvertrages? Könnte einem solchen Recht der Einwand der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs entgegenstehen?
  4. Ist es einem Versicherer, der dem Verbraucher entweder keine oder nur eine fehlerhafte Belehrung über dessen Widerspruchsrecht erteilt hat, untersagt, sich gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Verbrauchers wie insbesondere dem Widerspruchsrecht auf Verwirkung oder Rechtsmissbrauch zu berufen?
  5. Ist es einem Versicherer, der dem Verbraucher keine oder nur unvollständige oder fehlerhafte Verbraucherinformationen übermittelt hat, untersagt, gegenüber den sich hieraus ergebenden Rechten des Verbrauchers wie insbesondere dem Widerspruchsrecht auf Verwirkung oder Rechtsmissbrauch zu berufen?
  6. Steht das Unionsrecht, insbesondere Artikel 15 Absatz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, Artikel 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung und Artikel 35 Absatz 1 der Richtlinie 2002/83, ggf. in Verbindung mit Artikel 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, einer nationalen Regelung oder Rechtsprechung entgegen, wonach dem Versicherungsnehmer – nach berechtigter Ausübung seines Rechts zum Widerspruch zur Bezifferung der durch die Versicherung selbst gezogenen Nutzungen die Darlegungs- und Beweislast auferlegt wird? Verlangt das Unionsrecht, vor allem der Effektivitätsgrundsatz, bei Zulässigkeit einer solchermaßen verteilten Darlegungs- und Beweislast, dass dem Versicherungsnehmer im Gegenzug Auskunftsansprüche gegen den Versicherer oder sonstige Erleichterungen zustehen, um ihm die Durchsetzung seiner Ansprüche zu ermöglichen?

 

Die objektive Bedeutung des Europarechts für das nationale Zivilrecht steht in einem unüberbrückbaren Widerspruch zu der minimalen Zahl an Vorlagen durch die höheren deutschen Gerichte. Die Notwendigkeit einer Vorlage zum EuGH wird bedauerlicherweise durch den BGH regelmäßig nicht gesehen:

– Der BGH sah keine Veranlassung, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob das Policenmodell mit dem europäischen Recht zu vereinbaren ist (Urteil vom 16.07.2014, IV ZR 73/13). Das Bundesverfassungsgericht sah diese Rechtsauffassung ausdrücklich als nicht mehr vertretbar an (Beschluss vom 02.02.2015, 2 BvR 2437/14). Erst das Landgericht Erfurt beschloss am 30.12.2021 die offensichtlich erforderliche Vorlage zum EuGH. Mittlerweile ergibt sich aus einem Urteil des EuGH vom 24.02.2022, Aktenzeichen C-143/20, die zwangsläufige Unzulässigkeit des Policenmodells aufgrund der Vorgaben der Richtlinien.

– Der BGH ist in ständiger Rechtsprechung der Auffassung, dass sich Verbraucherinnen und Verbraucher bei Energielieferungsverträgen an Preisen festhalten lassen müssen, die aus missbräuchlichen Klauseln resultieren, wenn sie diese Preise drei Jahre lang hingenommen haben (Urteil vom 15.04.2015, VIII ZR 59/14). Der BGH sah keine Veranlassung, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob eine derartige „Heilung“ einer missbräuchlichen Klausel mit dem Europarecht zu vereinbaren ist. Mittlerweile hat der EuGH mehrfach entschieden, dass eine Frist von drei Jahren schon zu kurz ist, um Verbraucherinnen und Verbrauchern die Rückforderung von Zahlungen aufgrund missbräuchlicher Klauseln zu verwehren (Urteile vom 09.07.2020, C-698/18, und vom 22.04.2021, C-485/18). Die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs würde den Verbraucherinnen und Verbrauchern aber nach drei Jahren nicht nur die Rückforderung verwehren, sondern sie sogar dauerhaft an dem Ergebnis der missbräuchlichen Klausel festhalten. Ein solches Ergebnis widerspricht der Rechtsprechung des EuGH aus 2020 und 2021 diametral.

– Der BGH sah keine Veranlassung dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die sogenannte Kaskadenverweisung in Widerrufsbelehrungen zu Verbraucherkreditverträgen mit dem Europarecht zu vereinbaren ist (Urteil vom 22.11.2016, XI ZR 434/15). Auf die Vorlage des Landgerichts Saarbrücken stellte der EuGH fest, dass derartige Belehrungen europarechtswidrig sind (Urteil vom 26.03.2020, C-66/19).

– Der BGH sah keine Veranlassung, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die abstrakte Angabe des Verzugszinssatzes in Verbraucherkreditverträgen den Anforderungen des europäischen Rechts entspricht (Urteil vom 05.11.2019, XI ZR 650/18). Auf die Vorlage des Landgerichts Ravensburg stellte der EuGH fest, dass nach den europarechtlichen Vorgaben eine konkrete Angabe des Verzugszinssatzes zwingend erforderlich ist (Urteil vom 09.09.2021, C-33/20).

– Der BGH sah keine Veranlassung, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob in Verbraucherkreditverträgen die Angabe der für die Berechnung einer Vorfälligkeitsentschädigung wesentlichen Parametern in groben Zügen den Anforderungen des europäischen Rechts entspricht (Urteil vom 05.11.2019, XI ZR 650/18). Auf die Vorlage des Landgerichts Ravensburg stellte der EuGH fest, dass nach den europarechtlichen Vorgaben eine Angabe der Methode für die Berechnung in einer konkreten und für einen Durchschnittsverbraucher leicht nachvollziehbaren Weise zwingend erforderlich ist (Urteil vom 09.09.2021, C-33/20).

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